Die Ereignisse überschlagen sich im Moment, daher hier der Versuch einer Deutung der Geschehnisse.
Der Fall der Berliner Mauer 1989 hat das Ende des Kommunismus und damit das „Ende der Geschichte“ eingeläutet. Damit war gemeint, dass das Doppelpack Demokratie und Kapitalismus ohne ernsthafte Gegenmodelle als das bestmögliche System hervorgegangen war. Viele haben angenommen, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein würde, bis sich beides europa- und auch weltweit durchsetzen würde.
Ohne ernsthaften Gegner war es dem Kapitalismus möglich, sämtliche Schranken zu überwinden, Schritt für Schritt. Für die Demokratie war es hingegen schwieriger geworden, neue Bereiche zu erobern. Die Stärke des Einen und die Schwäche des Anderen führte dazu, dass sich das Vermögen und damit die Macht immer ungleicher verteilte. Eine Entwicklung, die bis heute anhält und die es besonders den rechten PolitikerInnen ermöglichte, weitreichend Fuß zu fassen. Österreich war hier mit Jörg Haider ausnahmsweise mal früher dran, später folgten Le Pen, Berlusconi, Gert Wilders und noch viele andere. Während die Linke Mühe hatte, die Menschen mit einem positivem Zukunftsbild für sich begeistern, bauten die Rechten nicht nur ihre eigene Macht aus, sondern drängten auch noch die Gesellschaft als Ganzes nach rechts. Plötzlich besetzte die Sozialdemokratie Positionen, die vor 30 Jahren noch undenkbar, weil reaktionär und unsolidarisch waren. Und die Konservativen haben viele Positionen der Rechten übernommen. Manchmal aus Kalkül, oft aus mangelnder Reflektion. Genutzt hat es den beiden großen Volkspartei-Strömungen in Europa wenig, beide hatten in den letzten Jahren mit einem massiven Mitglieder- und WählerInnenschwund zu kämpfen.
Diese politische Entwicklung hat viele Bereiche beeinflusst: Sozialstaatliche Errungenschaften standen wieder zur Debatte. Die Gewerkschaften wurden geschwächt. ArbeiterInnenrechte wurden reduziert oder abgeschafft. Randgruppen wie BettlerInnen oder Roma und Sinti wurden mehr und mehr stigmatisiert. Förderungen für Kunst- und Kultur wurden reduziert oder für Repräsentationskunst im Sinne der Förderer umgeleitet. Besonders im Asylwesen verschärfte sich der Ton zunehmends. In Österreich war vor wenigen Wochen auf einmal der rechte Volkshetzer in Umfragen auf dem ersten Platz. Während die lärmende Minderheit die rechten Parolen lautstark auf der Straße und in Onlinemedien wiederholte, die sie in Discos und Bierzelten von den rechten PolitikerInnen hörte, war die schweigende Mehrheit wie paralysiert. Und aus viele Gesprächen heraus glaube ich vor allem deswegen, weil es niemand schaffte, dem Mob etwas entgegenzustellen, der sich hier zusammenbraute. Jeden Tag eine weitere schlechte Nachricht: Flüchtlinge, die im Freien schlafen müssen. Hetzer, die ihnen wahlweise den Tod durch Vergasung, Flammenwerfer oder Bomben wünschen. Politische Alianzen zwischen Sozialdemokraten und Freiheitlichen, die genau diese Stimmung salonfähig und mehrheitsfähig machen.
Aber diese Pendelbewegung scheint nun an ihrem Scheitelpunkt angenommen zu sein. Die schweigende Mehrheit dürfte langsam realisieren, dass sie selbst gefragt ist, sich gesellschaftlich und politisch zu engagieren. Es werden Gruppen gegründet, die rechte HetzerInnen systematisch suchen und anzeigen. Die Spendenbereitschaft ist groß wie nie. Flüchtlingshilfsprojekte schießen wie die Schwammerl aus dem Boden, viele können sich vor dem Ansturm kaum retten, wie wir selbst in der Tabakfabrik gesehen haben. Auf dem Nukefestival nehmen 20.000 Leute vor einer Bühne an einer Schweigeminute teil und applaudierend tosend bei der klaren Ansage Refugees Welcome. Und weil tausende Menschen in einer Nacht heute die Grenze von Ungarn nach Österreich überqueren, kaufen Menschen die Supermärkte leer und bringen ihnen Proviant an den Bahnhöfen. Es scheint sich etwas quer über alle Bevölkerungsschichten zu bewegen.
Und heute Nacht könnte etwas historisches passieren: Nach Deutschland haben nun auch Ungarn und Österreich die Dublin Verordnung, die für viele Missstände in der Flüchtlingspolitk verantwortlich ist, effektiv gekippt. Freilich aus fast diametral verschiedenen Gründen, aber immerhin. Die Dublinverordnung besagt, dass Asylverfahren von Flüchtlingen in jenem Land durchgeführt werden müssen, wo sie als erstes Mal registriert werden. Damit haben die EU-Kernländer ohne Außengrenzen ihre Verantwortung nach außen delegiert – just an jene Länder, die in der aktuellen Wirtschaftskrise die schlechteste Ausgangslage hatten, diese wahrzunehmen. Eine Lösung, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt wurde, weil sie jegliche gesellschaftliche und soziale Realität ignorierte.
Das öffnet ein kleines Zeitfenster, um nicht nur das Dublin Verfahren, sondern auch die EU selbst zu reformieren. Denn das Versagen der EU in der Flüchtlingsfrage kommt nicht überraschend, sondern steht stellvertretend für einen grundlegenden Konstruktionsfehler der europäischen Union: Sie ist eine Wirtschaftsunion und keine Sozialunion. Doch soziale Herausforderungen wie jene der Flüchtlingsverteilung, der Armut oder der Menschenrechte kann man nur mit Sozialpolitik und nicht mit Wirtschaftspolitik alleine lösen. Wer einen gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum bildet, muss auch einen gemeinsamen Gesellschaftsraum bilden. An einem Europa der vereinigten Staaten führt a la long kein Weg vorbei. Darüber habe ich vor kurzem schon geschrieben.
Dieses Problem muss Europa nun in Angriff nehmen. So gut wie heute Nacht waren die Chancen dafür vielleicht noch nie.