Offener Brief: Rücktritt als Vorsitzender des Stadtkulturbeirats aus Protest gegen die Einführung des sektoralen Bettelverbots

Ich habe heute meine Position als Vorsitzender des Linzer Stadtkulturbeirats zurückgelegt und dazu folgenden Brief an die Mitglieder des Linzer Gemeinderats geschickt:

Sehr geehrte Damen und Herren,

aus Protest gegen die anhaltende Verfolgung und Kriminalisierung von BettlerInnen und Armutsbetroffenen durch die Stadt Linz und Teilen der politischen Parteien lege ich hiermit die ehrenamtliche Position des Vorsitzenden des Linzer Stadtkulturbeirats zurück.

Ich kann es nicht mehr mit meinem Gewissen vereinbaren, mich für eine Stadt zu engagieren, die zwar davon spricht, sich kulturell und gesellschaftlich zu öffnen, aber gleichzeitig gezielt einzelne Menschengruppen ausschließt und verfolgt.

Linz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten darum bemüht, eine liberale und offene Stadt zu werden, die mutig nach vorne blickt. Diesen erfolgreichen Pfad hat das offizielle Linz in den letzten beiden Jahren verlassen, mit einer erschreckenden Geschwindigkeit und Entschlossenheit. Aus Angst vor einem Erstarken rechter Politik haben die beiden ehemaligen Volksparteien SPÖ und ÖVP selbst einen Rechtskurs eingeschlagen und in Folge ihre eigenen Prinzipien und Wertevorstellungen aufgegeben. Die Verfolgung der in Linz lebenden Notreisenden ist nur eine Komponente von vielen, aber sie ist das augenscheinlichste Beispiel für jene unsoziale Politik der ehemaligen Sozialstadt Linz, gegen die ich protestiere. Statt soziale Antworten auf ein soziales Problem zu suchen, wird nun mit Sicherheitskräften und Verboten eine Law&Order Politik verfolgt, die Probleme nicht löst, sondern nur verlagern wird. Diese Verdrängungspolitik wird bloß zu räumlichen Verlagerungseffekten in die Nebenstraßen und zu Verlagerungseffekten im Verhalten führen, die aus Verzweiflung zu mehr Kriminalität oder Prostitution führen können.

Ich appelliere nochmals an alle Mitglieder des Gemeinderats, morgen gegen die weitere Verschärfung der Bettelverbote und das sektorale Bettelverbot zu stimmen. Suchen wir lieber gemeinsam echte Lösungen, statt weiter die Menschen in Linz gegeneinander aufzustacheln. Es ist die Aufgabe der Politik, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Die derzeitige Richtung führt aber nur zu einer tieferen Spaltung der Menschen, zu einem Einteilen in Gut und Böse, zu Trennung statt zu Zusammenhalt. Wohin das Ausspielen von verschiedenen Bevölkerungsgruppen gegeneinander führen kann, müssen wir in Österreich besonders wissen. Die derzeitige Politik der Ausgrenzung und Vertreibung insbesondere der Volksgruppe der Roma erinnert an ein dunkles Kapitel unserer Geschichte. Die selbe Stadt, die sich in den letzten Jahrzehnten durchaus engagiert um die Aufarbeitung ihrer Rolle in der NS-Zeit bemüht hat, führt nun das erste Mal seit 1939 wieder systematisch eine „Zigeunerliste“ – heute nennen wir sie Bettlerdatenbank. Es sind die selben Vorurteile, die heute wie damals zu der Verfolgung der Roma führten: Die pauschale Unterstellung von Kriminalität und Asozialität. Die Rechtsgrundlage für den „Festsetzungserlass“ des Deutschen Reiches war der „Erlass zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“. Die Tragweite dieses Erlasses war eine viel drastischere, aber der Mechanismus ist der selbe: Die pauschale Kriminalisierung einer Menschengruppe und ihres Verhaltens. Während in der Mehrheitsbevölkerung der Zusammenhalt innerhalb der Familie propagiert wird, nennen wir den selben Zusammenhalt bei Roma-Familien eine „organisierte Bettelbande“ und „Bettelmafia“. Diese Hetze wird durch die Stadt sowohl in ihrer Pressearbeit verbreitet, als auch auf der stadteigenen Plattform Schau.auf.Linz toleriert oder gar unterstützt.

Der so durch Politik und Medien geschürte Hass auf BettlerInnen führte in den letzten Monaten zu drei Brandanschlägen auf ihre bescheidenen Zeltlager. Statt zu helfen hat die Stadt Linz wenige Wochen später, bewusst als Pressetermin inszeniert, auch das vierte Zeltlager mit Unterstützung der Polizei geräumt. Dass der mehrfache Verlust ihres Hab und Guts zu mehr Verzweiflung und teilweise aufdringlicherem Verhalten geführt hat, wird nun zynischerweise als Rechtfertigung für das sektorale Bettelverbot gesehen. Es ist eine empathielose Politik, die sich weigert, sich auch nur für einen Moment in die Position jener Menschen zu versetzen, die am Rande der Stadt im Freien schlafen und ihre Kinder in Brunnen und der Donau waschen müssen. Es ist eine empathielose Politik, die sich weigert, Kinder von BettlerInnen in Kindergärten und Schulen aufzunehmen, und gleichzeitig den BettlerInnen vorwirft, dass sie daher ihre Kinder beim Betteln mitnehmen. Es ist eine empathielose Politik, die gleichzeitig keine legalen Nächtigungsmöglichkeiten ermöglicht und den BettlerInnen dann illegales Campieren vorwirft.

Wir müssen endlich der Tatsache ins Auge blicken, dass steigende Armut sowohl in Österreich als auch in Europa etwas reales ist, das nicht durch Verbote abgeschafft werden kann. Ich erwarte mir von der Politik eine langfristige Strategie, die die soziale Frage und die Frage nach Verteilungsgerechtigkeit in den Vordergrund stellt. Ich erwarte mir von der Politik eine Enscheidungsfindung basierend auf Fakten statt auf Vorverurteilungen des Boulevards und Stimmungsbildern einer aufgehetzten Bevölkerung. Ich erwarte mir besonders von ÖVP und SPÖ ein entschiedenes Entgegentreten gegen Rechtsextremismus statt der reflektionslosen Übernahme rechter Positionen.

Ich danke meinen langjährigen KollegInnen im SKB, der LinzKultur und den Mitgliedern des Kulturausschusses für die gute und produktive Zusammenarbeit der letzten Jahre und verspreche, mich auch weiterhin für die kulturelle Szene der Stadt Linz zu engagieren. Aber es ist mir wichtiger, heute ein deutliches Zeichen gegen die Verfolgung der Armen zu setzen, als ein ehrenwertes Amt zu bekleiden.

Mit den besten Grüßen,
Thomas Diesenreiter

Thomas Diesenreiter - Foto Jürgen Grünwald 1

Foto: Jürgen Grünwald

18 Gedanken zu „Offener Brief: Rücktritt als Vorsitzender des Stadtkulturbeirats aus Protest gegen die Einführung des sektoralen Bettelverbots

  1. Ernsthaft
    Das untersten Bettlern Organisierte Banden stecken scheint ja jedem spurlos vorbei gegangen zu sein. Dies ist schon oft bestätigt worden.
    Wie hilft man alsomden“echten“ armen in dem sie von der Bettelmafia verrieben werden und somit erst die Hilfe den falschen zukommt.
    Klar machen wir garnis lassen die Bettler in Linz das hilft jedem Kopf meets Tischplatte.

    PS Erpressung ist natürlich auch eine wirklich soziale Einstellung Thumps Up

    • Dem kann ich mich auf Grunde zahlreicher, eigener Beobachtungen im Sicherheitsdienst leider nur anschließen 🙁
      Es gibt die reale Armut,aber sehr wohl auch organisierte Bettlerbanden und diese Gruppen zu trennen wäre Aufgabe der Sozialpolitik und der Exekutive — dann bräuchte es das generelle Bettelverbot nicht. 🙁

    • Meine Hochachtung und grossen Dank für Ihre Stellungnahme. Wir Künstler und ich als “ Auslands- Linzerin “ brauchen Kulturschaffende wir Sie. Ich verstehe und Ihre Haltung und wünsche Ihnen nur das Beste für Ihre Zukunft.
      Hochachtungsvoll

      Ilona Pachler

  2. Mein tiefer Respekt !
    Das löst natürlich noch kein Problem.
    Aber “ vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ sickert bei einem freiheitsbewußten Menschen in seiner Vorurteilsdimension schon „gewaltig“.

  3. Ich bin so stolz auf Sie Herr Thomas, obwohl ich Sie gar nicht kenne und kann nur sagen, meinen tiefsten Respekt! ich kenne das Problem der Roma sehr gut, woher ich ursprünglich komme, da leben sie alles andere als gut. Das ist Serbien. Ich habe selber Roma Wurzeln mütterlicherseits und es tut wirklich weh zu sehen das Städte wie Linz, welche sich wohl gerne auch fortschrittlich nennen, die selben Muster der NS Zeit verwenden, nur anders verpackt, wie Sie sagen. Diese Menschen werden überall auf der Welt so verunglimpft, dabei sollte man sie zum Weltkulturerbe deklarieren. Sie sind eine Bereicherung für die Welt. Ihr Zeichen ist ein Zeichen der Menschlichkeit und Respekts und das Aufzeigen der Missstände in der Politik der Stadt und des Landes letztendlich. Danke! Matilda Leko, Sängerin

  4. Es ist wohltuend in Zeiten wie diesen Kommentare wie diesen zu lesen….Ein Statement für Menschlichkeit,
    nicht mehr und nicht weniger! Ich verneige mich vor ihnen und ihrem Mut.
    Eva Abu Zahra

  5. Gott sei dank gibt es Menschen mit Charakter und Traute. Die Hoffnung nährt sich aus Menschen wie Herrn Thomas Diesenreiter. Eine stolze Auslandsösterreicherin D A N K E

  6. Lieber Thomas!
    Wir freuen uns sehr über deinen Protest den du durch deinen Rücktritt als Stadtkulturbeiratsvorsitzender zum Ausdruck gebracht hast.
    Es ist so erschreckend in welche Richtung sich unser Land entwickelt.
    Wir sind sehr stolz auf dich.
    Deine Eltern

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.