Struktur, Macht, Verantwortung

Dieser Text ist erstmals in der KUPFzeitung #180/2021 erschienen.

Sylvia Amann war Teil der Jury, die vor gut zwei Jahren die Kulturhauptstadt Bad Ischl – Salzkammergut ausgewählt hat. Wie bewertet die Expertin die aktuelle Lage vor Ort, die Rolle von Bewerbungsbüchern und das Modell Europäische Kulturhauptstadt insgesamt? Thomas Diesenreiter fragt nach.

Hinweis: Am Ende des Beitrages findet sich das ungekürzte Interview als Audioversion.

Thomas Diesenreiter: Seit dem Zuschlag zur Kulturhauptstadt Bad Ischl – Salzkammergut hat man dort bis auf diverse Personalwechsel nicht allzu viel vorzuweisen und hinkt dem Zeitplan hinterher. Ist dieser Rückstand noch aufzuholen?

Sylvia Amann: Es gibt keine Kulturhauptstadt, die nicht irgendwann einmal Probleme zu lösen hätte. Das ist bei so einem komplexen Projekt immanent. Tatsächlich scheint es eine strukturelle Herausforderung zu geben: Oft wird das Team aus dem Ausschreibungsverfahren nach erfolgtem Zuschlag von einem Team zur Umsetzung des Vorhabens abgelöst. Mit den damit verbundenen Problemen ist das Salzkammergut nicht allein, auch Bodø in Norwegen erging es zuletzt ähnlich. Meine Überlegung dazu: Wäre es nicht zielführender, die künstlerische Leitung bereits im Ausschreibungsverfahren einzubinden?

Im Bewerbungsbuch wurde ein siebenköpfiges Executive Board als künstlerische Leitung vorgeschlagen – was von der Jury besonders hervorgehoben wurde. Jetzt gibt es mit einer Einzelperson eine klassische künstlerische Leitung. Wie viel ist ein Bewerbungsbuch wert, wenn die Kulturhauptstädte nach dem Zuschlag machen, was sie wollen?

Das Problem liegt in der Struktur der Europäischen Union. Sie ist ein seltsames Konstrukt, eher mit einem Verein als mit einem Nationalstaat vergleichbar. Die EU hat keine Verfassung, und damit nahezu keine Sanktionsmöglichkeiten. Das zeigt sich derzeit auch in anderen Politikfeldern, etwa bei der Rechtsstaatlichkeit.

Bei der Kulturhauptstadt können Probleme zwar angesprochen werden im Sinne von: Ihr wolltet aber ursprünglich etwas Anderes machen. Wenn dann erklärt wird, warum es Abweichungen benötigt, gibt es jedoch keine Handhabe, solange die Umsetzung dem Geist des Bewerbungsbuchs in großen Teilen entspricht.

Und welche Möglichkeiten haben Projektträger*innen, die im Bewerbungsbuch stehen? Die teilweise schon seit drei Jahren unentgeltlich Konzepte entwickelt haben und oft immer noch nicht wissen, ob sie Projekte umsetzen können?

Es gibt leider immer wieder Fälle, in denen die Jury in Bezug auf Streitigkeiten rund um Verträge kontaktiert wird – sowohl aus der Bewerbungsphase als auch in der Umsetzung. Es ist schwer, dazu generell etwas zu sagen, weil ich die konkreten Verträge nicht kenne.

Die Frage zeigt aber, wie Kulturarbeit leider überall – auch abseits der Kulturhauptstadt – funktioniert. Man investiert viel Zeit in Vorarbeiten und Konzepte. Gerade EU-Förderungen sind sehr anspruchsvoll, aber auch auf nationaler und regionaler Ebene steigen die Ansprüche. Konzeptarbeit wird trotzdem praktisch nie finanziert. Auch eine Kulturhauptstadt funktioniert nach dieser Logik.

Ein Beispiel, wie es anders gehen kann, gab es im Rahmen der COVID-19-Hilfsmaßnahmen des Bundes, als explizit Konzepterstellung finanziert wurde. Hier sehe ich eine Chance, aus der Pandemie einen Strukturwandel anzustoßen, damit Projektvorbereitung künftig abgegolten wird. Es gibt also Bewegung in diesem Bereich, wir sind aber sicher noch weit entfernt vom Idealzustand. Und natürlich wäre es spannend, im Rahmen der Kulturhauptstädte nach Modellen zu suchen, die auch regional funktionieren könnten.

Wenn die EU so machtlos ist: Wäre es dann nicht überlegenswert, eine Beteiligung im Aufsichtsrat anzustreben? Die EU stellt immerhin 15%* der Finanzierung, genauso viel wie die 23 beteiligten Gemeinden. Da könnte sie doch zumindest ein Veto-Recht oder die Einhaltung des Bewerbungsbuchs einfordern?

Würde man einen solchen Ansatz umsetzen wollen, müsste man bereit sein, den Kulturhauptstädten deutlich mehr personelle Ressourcen zu widmen. Das gesamte Team der Europäischen Kommission zur Administration aller Europäischen Kulturhauptstädte besteht derzeit aus zwei Personen. Für solche Änderungen müsste man auch den rechtlichen Rahmen für die Europäischen Kulturhauptstädte ändern. Die aktuelle Regelung gilt noch bis 2033, die Kulturhauptstädte 2033 werden aber schon fünf Jahre vorher ausgewählt. Das heißt, bis 2029 muss es eine neue Rechtsgrundlage geben, damit weiter Kulturhauptstädte ernannt werden können. 

In diesem Rahmen sollte es auch um das Thema Mitentscheidung sowie die Trends gehen, die wir jetzt beobachten – etwa, dass immer mehr kleinere Städte und Regionen tätig werden. Das ist unzureichend abgebildet. Dafür braucht es Strategien.

Wird auch die Grundsatzfrage gestellt werden, ob es das Modell Kulturhauptstadt weiterhin geben kann?

Wenn wir diese Frage stellen, sollten wir uns zuerst bewusst sein, dass wir mit der Europäischen Kulturhauptstadt ein weltweit verständliches kulturelles Tool zur Verfügung haben. Wenn man in Asien oder Afrika unterwegs ist, ist damit vergleichsweise einfach zu illustrieren, wie man sich auf EU-Ebene für Kultur engagiert. Die Europäische Kulturhauptstadt stand auch Modell für zahlreiche andere Kulturhauptstadtinitiativen weltweit.

Nach innen muss man tatsächlich ein bisschen genauer überlegen. In den Städten und Regionen, die sich bewerben, ist die Darstellung einer europäischen Dimension nach wie vor eine der größten Herausforderungen. Selbst nach vielen Jahren EU-Mitgliedschaft ist es nicht selbstverständlich, dass Städte oder Kulturakteur*innen in Städten europaweit vernetzt sind; dass sie die europäischen Netzwerke kennen; dass sie sich für Europäische Kulturpolitik engagieren; dass sie sich an Projekten, an Peer-Learning oder an sonstigen Initiativen wie dem Solidarity Corps beteiligen. Das wird bei zukünftigen Überlegungen zu berücksichtigen sein.

* Anmerkung: Die 15% Anteil der EU teilen sich auf eine fixe Zusage von 1,5 Mio € (= 5%), den sogenannten Melina Mercouri Prize sowie 3,0 Mio € auf (=10%), die über diverse EU Förderprogramme zusätzlich eingeworben werden müssen. Der tatsächliche EU Anteil wird erst am Ende bezifferbar sein.

Interview Audioversion

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